Philosophicum Lech 2014 - Schuld und Sühne
Als ich als Sieger der Philolympics 2014 feststand und in einem Zustand irgendwo zwischen Überraschung, in ungeahnter Form zutage tretender Euphorie und perplexer Realitätsverweigerung fluktuierte, während ich da draußen stand und nicht recht wusste, wie mir geschah, drückte man mir, gemeinsam mit einer Urkunde, einem zusammengerollten Plakat der Philolympics und einem Buch („Der aufrechte Gang“ von Kurt Bayertz, C. H. Beck-Verlag) einen Briefumschlag in die Hand, der sich als Stipendium zum Philosophicum Lech 2014 erweisen sollte, was man mir auch umgehend mitteilte. Der Wert dieses Geschenks war mir zu diesem Zeitpunkt noch nicht wirklich bewusst, da ich, was ich auch, ohne tiefergreifende Beschämung ob meiner Unwissenheit zu empfinden, zugab, nicht wusste, was ein Philosophicum sei und was ich dort zu suchen oder zu schaffen habe. Rechtfertigend muss ich jedoch beifügen, dass Philosophie-Symposien in Vorarlberg in einer Schule im zehnten Wiener Gemeindebezirk (wenn auch Privatschule) nicht zum Kanon der unabdingbaren und ubiquitär relevanten Gesprächsthemen zählten und zählen.
Diese Tatsache erachte ich, rückwirkend betrachtet, als durchaus bedauernswert, vor allem, wenn man den Philosophie-Unterricht in der achten Klasse, wie in meinem Falle, in der heimlichen Gegenwart Konrad Paul Liessmanns (Gründer und „Mastermind“ des Philosophicums) bestreitet, was seinen Grund darin hat, dass das von unserem Lehrer bevorzugte Lehrbuch „Vom Denken“ von eben jenem Mann geschrieben wurde. Vor allem aber bin ich insofern froh über meine Aufklärung in Bezug auf das Philosophicum, als es sich als übernationales Zentrum der philosophischen, kultur- und sozialwissenschaftlichen Kontemplation und Reflexion versteht und in Fachkreisen als eines der wichtigsten Philosophie-Symposien weltweit anerkannt ist, womit die Veranstaltung einen idealen Ausklang meines Philosophie-Unterrichts darstellt. Möglicherweise kam mir das Fehlen der dieser Veranstaltung zustehenden medialen Präsenz nur als ein solches vor, da ich es eben zuvor nicht kannte. Carl Spitteler sagte einst: ,,Jedes Sehen will gelernt und geübt sein. Man sieht bloß, was man unterscheidet, und man unterscheidet nur, wofür man sich einmal interessierte und was man mit Namen zu nennen weiß.“ Treffend formuliert.
So vergingen die Monate, und irgendwann Mitte September realisierte ich, dass Tag X bevorsteht und ich meine Sachen für Lech packen sollte. Penibel genau plante ich die achtstündige Fahrt per Zug und Bus, damit auch ja nichts schiefgehen konnte. Glücklicherweise konnte ich mir während der langen Anreise die Zeit mit meinem Laptop und ein paar Büchern vertreiben.
Da war ich nun. Lech am Arlberg. Hier sollte also mein furioser Abschied vom Bildungsbürgertum stattfinden, bevor ich den Grundwehrdienst antrete und lerne, den Drang, sich die Sinnfrage zu stellen, der mir stets innegewohnt hatte, zu unterdrücken. Der Weg zum Apart-Hotel Filomena war schnell gefunden, und eine aufgrund ihres Akzents deutscher Herkunft anmutende Dame im „Dirndl“ empfing mich mit einer selbstverständlichen und erfrischend unaufgesetzten Gastfreundschaft.
Just in diesem Moment kam ein weiterer junger Herr durch die Tür, dem - ich möchte hier keine Stereotypen verbreiten! - deutlich anzusehen war, dass er, genau wie ich, ein „Presse“-Stipendiat für das Philosophicum und infolge dessen mein Zimmerkollege für die nächsten fünf Tage war. Gemeinsam gingen wir hinauf in das wundervoll eingerichtete, geräumige und mit einer Küche ausgestattete Apartment und plauderten anschließend ein wenig. Er wurde in Tokio geboren, und seine Eltern, ein Dirigent und eine Pianistin, zogen mit ihm vor elf Jahren nach Wien (was man ihm aber nicht anhörte, da er schöneres Deutsch sprach als 90 Prozent der in Wien geborenen Menschen). Zwei weitere Stipendiaten gesellten sich im Laufe der nächsten zwei Tage in unseren Reigen der jungen Wissbegierigen. Diese waren eine Deutsche, die seit drei Jahren in Wien lebt und studiert, und ein Innsbrucker Freigeist, der seit geraumer Zeit Vorbereitungen für seine Dissertation trifft. Die kurzfristige Kameradschaft, welche sich unter uns während des Symposiums bildete, empfand ich als außerordentlich angenehm und zuträglich für meine seelische Konzentration, da ich wohl, hätte ich meine Zeit in Lech gänzlich alleine verbracht, ein wenig introvertierter aufgetreten wäre, was meinen Fokus auf die Vorträge und Diskussionen sicherlich beeinträchtigt hätte.
Außerdem hatte ich einige sehr nette Gespräche mit den drei Studenten, bei denen immer ein gewisser Lernfaktor für beide Seiten gegeben war (was bei Gott nicht selbstverständlich ist). So diskutierte ich beispielsweise mit Kohki (dem Japaner) über den Einfluss popkultureller Medien auf die Entwicklung von Kindern, welchen ich persönlich für zu stark polemisiert halte, mit Lilly (der deutschen Studentin) über den Zusammenhang zwischen Philosophie und Politik und mit Laurin (dem Innsbrucker Doktoranden) über die Vor- und Nachteile ökonomischer Netzwerke und denkbare oder undenkbare Alternativen. Ich muss, ohne mich in Selbstmitleid winden zu wollen, gestehen, dass es gut war, dort mit annähernd Gleichaltrigen in Kontakt treten zu können, da ich mich als durchaus Jüngster unter einer Mehrheit an tendenziell betagten Herrschaften nicht hundertprozentig ernst genommen fühlte. Wer schon einmal in einer niederösterreichischen Kleingemeinde versucht hat, seine Passanten zu grüßen, weiß, was ich damit meine. Im Übrigen waren Kollegen und Zimmergenossen dieser Art ein Segen, und hierbei spricht anscheinend der ungeteilte Pragmatiker aus mir, weil wir so mit relativ wenig Aufwand für den Einzelnen Abendessen kochen konnten.
Nachdem das persönliche Resümee nun abgeschlossen ist, möchte ich einen kurzen Überblick über das dort erlebte Programm, also die Vorträge, Diskussionen und Freizeitgestaltungsmöglichkeiten, geben.
Zuerst luden Konrad Paul Liessmann und Michael Köhlmeier zum philosophisch-literarischen Vorabend, bei dem Zweiterer drei bekannte Geschichten, die mit Schuld zu tun haben, namentlich die Geschichten von Adams und Evas Vertreibung aus dem Paradies, der Erbschuld des Orest und der Rolle des Hagen in den Nibelungen, erzählte und Ersterer diese anschließend in philosophischer Manier deutete und kommentierte. Dieser Vortrag war insofern eindrucksvoll, als in diesem Mahlstrom aus strukturierten Gedankengängen die beachtenswerte Erzählkunst eines Köhlmeiers auf die Gabe Liessmanns, aus unterschiedlichsten Kontexten philosophische Brücken zu schlagen und jene zudem rhetorisch ansprechend aufzuarbeiten, traf und eine wunderbare Symbiose schuf.
Da am darauf folgenden Tag das Programm erst um 15:00 begann, nutzten Kohki und ich die Zeit, um mit der Seilbahn auf den Rüfikopf zu fahren und dort ein wenig zu wandern. Glücklicherweise spielte uns das Wetter in die Karten, wodurch wir im strahlenden Sonnenschein über Gott und die Welt sinnieren und ein paar Fotos von der malerischen Aussicht machen konnten. Leider wurde ich auf dem Berg gewissermaßen leichtsinnig, da ich mich meiner Jacke entledigte, was ich die nächsten Tage bereuen sollte, da ich mir eine nicht zu verachtende Erkältung einfing.
Am Nachmittag stand das „Magna-Siemens-Impulsforum“ auf dem Plan, und das Impulsreferat des ehemaligen Deutschen Politikers Dieter Althaus, der nun für Magna arbeitet, ließ mich mit Entsetzen feststellen, dass auch ein Philosophicum nicht über den Zwang des Findens zahlungskräftiger Sponsoren erhaben ist. Althaus machte nämlich dem Politikerhandwerk alle Ehre und redete viel, ohne dabei etwas zu sagen. Überraschenderweise fand er bei seinen Erläuterungen über Verantwortung immer wieder Magna als Beispiel für vorbildliche Unternehmensstrukturen.
Deutlich unterhaltsamer wurde es bei der Diskussionsrunde mit Manfred Ainedter (Strafanwalt, der u.a. Karl-Heinz Grasser vertrat), dem ehemaligen Vizekanzler Erhard Busek, dem Gemeinwohl-Ökonomen Christian Felber und dem deutschen Bischof Hans-Jochen Jaschke, bei der heitere Pointen und ungewollt abfällige Schuldzuweisungen einander abwechselten. Als es besonders „brodelte“ zwischen dem Bischof und dem Gemeinwohl-Ökonomen, warf ein Toningenieur aus Versehen einen Plakatständer um, woraufhin im gesamten Saal lautes Gelächter ausbrach, dem auch ich mich nicht entziehen konnte.
Nach der festlichen Eröffnung durch Lechs Bürgermeister gab Herr Liessmann ein allgemeines Exordium zu den Begriffen Schuld, Sühne und Verantwortung und überzeugte mich ein weiteres Mal von seinen höchst fluiden Gedankenströmen. Zum Schluss des Tages widmete sich der ehemalige Wissenschaftsminister und Altphilologe Karlheinz Töchterle der Schuld am Beispiel des Ödipus und bekam für seinen Vortrag lang anhaltenden Applaus.
Am Freitag eröffnete Ekaterina Poljakova den Tag mit der Diskrepanz zwischen der Freiheit der Wünsche und der Unfreiheit der Taten, die sie behandelte, indem sie das bekannte Dilemma des armen Studenten und späteren Mörders Raskolnikow in Dostojewskis Werk „Schuld und Sühne“ (heute als „Verbrechen und Strafe“ übersetzt), welches namensgebend für das diesjährige Philosophicum war, analysierte. Anschließend setzte sich Maria-Sibylla Lotter mit dem Begriff der Haftung und der Ideologie der Verantwortung auseinander.
Wir vier Stipendiaten hatten die Ehre, mit Professor Liessmann, dem „Presse“-Chefredakteur Rainer Nowak und dem Lecher Bürgermeister Ludwig Muxel für die Dauer von etwa 15 Minuten einen Kaffee zu trinken und uns auszutauschen. Muxel zeigte kein Interesse an uns und verschwand wortlos nach vier Minuten, während Liessmann und Nowak uns fragten, wie wir an das Stipendium gekommen seien und was unsere derzeitige Beschäftigung sei. Mit Herrn Nowak verstand ich mich recht gut, obwohl er mich als „Standard“-Leser enttarnte und ob dieser Tatsache spaßhalber ein wenig aufzog. Man merkt diesem Mann seine journalistische Schlagfertigkeit förmlich an. Liessmann macht auf mich allgemein einen eher unnahbaren Eindruck (vielleicht haben das Koryphäen so an sich).
Katharina Lacina, Liessmanns Assistentin, las nun aus dem Buch „Der Fall Andreas Dippold“, das von einem handgreiflichen Hauslehrer handelt, der einen Schüler zu Tode züchtigt und als Mitgrund für den Start des Sexualstrafrechts gilt, da er seine männlichen Schüler vor der Onanie abhalten wollte. Lacina erwähnte als lustigen Nebenfakt, dass der Erfinder der „Kellogs“-Zerealien, welcher übrigens drei Patente auf Keuschheitsgürtel besaß, seine Cornflakes ohne Zucker herstellen ließ, um die verweichlichten Burschen wieder zur Härte zu erziehen.
Dass ein Symposium mit dem Thema „Schuld und Sühne“ irgendwann bei der Causa Nationalsozialismus landen würde, war mir im Vorhinein schon klar, und dieser Moment war gekommen, als Michael Schefczyk das Podium betrat. Allerdings schwang jener nicht mit der üblichen Moralkeule, sondern legte eine rationale Analyse dar, die mich sehr an den Film „Das radikal Böse“ erinnerte. Er war der Auffassung, dass eine pauschale Schuldzuweisung totalitär und das Zusprechen von Schuld immer das Privileg des Gewinners sei. Man solle das Modell von Rache und Verachtung zurücklassen und sich fragen, welchen Standards man gerecht werden müsse, um im Gesamten zum Gemeinwohl beizutragen, da das klassische Verantwortungsverständnis in einem komplexen System wie unserer Gesellschaft obsolet geworden sei. Dieser Standpunkt erschien mir in hohem Ausmaß vernünftig und mit vorteilhaften Begriffen besetzt.
Am Abend wurde der Tractatus-Preis für Essayistik vergeben, bei dem der Schweizer Philosoph Peter Bieri für sein Buch „Eine Art zu leben“ prämiert wurde. Der Verleihung ging eine hervorragende und charismatische, zugegebenermaßen aber auch unverhältnismäßig lange Laudatio des ehemaligen Tractatus-Preisträgers Franz Schuh voran, bei der man merkte, dass Schuh Bieris das Thema Würde behandelndes Werk wirklich verstanden und sich einige Gedanken dazu gemacht hat. Bieri selbst bedankte sich artig bei den anonymen Gönnern, die das Preisgeld beisteuerten, und erzählte eine Kurzfassung seiner Lebensgeschichte, basierend auf dem Unterschied zwischen den schweren philosophischen Büchern auf seinem Schreibtisch im Arbeitszimmer und der einfacheren belletristischen Literatur auf seinem Nachtkasten, die immer mehr zueinander fanden und schlussendlich aus demselben Tisch Platz fanden. Bieri machte einen ausgesprochen sympathischen und bescheidenen Eindruck.
Den besten und mit dem lautesten Applaus belohnten Vortrag hielt Barbara Bleisch, die sich unter dem Motto „Mitgegangen-mitgehangen?“ mit der Verantwortung für globales Unrecht auseinandersetzte und dabei den höchsten Informationsgehalt mit einer durch anschauliche Beispiele und heitere Formulierungen aufgelockerten verbalen Präsentation verband. Mit vier verschiedenen Thesen legte sie die unterschiedlichen Sichtweisen der Schuld an globalen Ereignissen dar und thematisierte auch den Anteil von Mitläufern und allgemeinen Strukturen an möglicher fahrlässigkeitsbedingter Schuld.
Weit weniger faktengestützt kam Harald Welzer daher, der mit seinem zweifelsohne respektablen Humor und Charme über einen Mangel an präparierter Information nur teilweise hinwegtäuschen konnte. Zwar waren ihm die Lacher seitens des Publikums gewiss, und auch seine Erklärung des „shifting baseline“-Modells und die durch ihn gewagten Einblicke in Totalitarismus im Laufe der Zeitgeschichte wussten zu überzeugen, doch nach der Hälfte des Vortrags driftete Welzer in eine ausgelutscht wirkende Polemik gegen moderne Kommunikationsmittel ab, die darin gipfelte, dass er Steve Jobs als autoritäre Herrscherfigur bezeichnete und Netzwerke wie „Facebook“ mit der Gestapo im NS-Regime und der Stasi zu DDR-Zeiten verglich. Zu allem Überfluss legte der Vortragende beim Beantworten von Fragen eine dermaßene Arroganz und beleidigende Überheblichkeit an den Tag, dass er sämtliche Sympathien bei mir verlor.
Ludger Heidbrink gelang das Kunststück, eineinhalb Stunden Vortragszeit damit zuzubringen, die Begriffe Verantwortungslosigkeit und Unverantwortlichkeit zu differenzieren und zu definieren. Zweifelsohne ging er dabei sehr bedacht und gründlich zu Werke, dennoch hätte man meiner Meinung nach den Inhalt etwas kompakter vortragen können.
Der darauffolgende Vortrag stellte einen Kontrast dazu dar, indem er als einziger des Symposiums meine Aufnahmefähigkeit überstrapazierte und mich nach etwa einer Stunde für zehn Minuten aussteigen ließ. Der deutsche Professor Reinhard Merkel präsentierte durchaus interessante und aufschlussreiche Gedanken zur juristischen Sichtweise von Willensfreiheit, Schuld und Strafe. Seine Thesen waren - was ich als sehr veranschaulichend empfinde - in naturwissenschaftlich wirkenden, formelhaften Formulierungen aufgestellt, welche er per Powerpoint-Präsentation visualisierte. Allerdings lag genau hier die Ursache meines Aussteigens, denn in einer etwa zehnminütigen Sequenz spielte Merkel in virtuoser Weise das, was Konrad Paul Liessmann in seinem Buch „Die Praxis der Unbildung“ als „Powerpoint-Karaoke“ bezeichnet. Wenn alle zehn Sekunden ein Abschnitt mit 50 Wörtern und etwa sieben Fachbegriffen, die teilweise erst dann neu eingeführt werden, heruntergerattert wird und man auch noch versucht, Notizen zu machen, dann ist dies nach einer Zeit heillos überfordernd. Zum Glück ging es, was ich aus den Gesprächen der anderen Zuhörer erlauschte, nicht nur mir so.
Der Tag fand sein Ende in einem klassischen Konzert, das uns von einem unheimlich talentierten russischen Duo (eine Violinistin und ein Pianist) dargeboten wurde. Der Pianist gab einem Herrn aus dem Publikum die Aufgabe, für ihn die Notenzettel umzublättern, nur in einer auswendig einstudierten Soloeinlage, in der der Pianist umwerfende Impulsivität bei seinem expressiven Spiel an den Tag legte, war dieser Herr nicht vonnöten. Lustig an dem ganzen Konzert war der Umstand, dass am selben Tag eine Hochzeitsgesellschaft unweit der Kirche, in der wir uns befanden, feierte und Feuerwerksraketen gen Himmel schoss, während wir der Musik lauschten. Die mehr oder minder regelmäßigen, in Sachen Lautstärke mit den Künstlern locker mithaltenden Knaller erweckten den Eindruck, mit den beiden Russen spiele noch ein Schlagwerker mit, der den Takt nicht zu treffen imstande war.
Die beiden letzten, von vielen Personen freudig erwarteten Vorträge befassten sich mit der Kontemplation von Wille, Willensfreiheit, Schuldfähigkeit, Schuld und Verantwortung aus psychopathologischer Perspektive bzw. aus Sicht der Hirnforschung.
Henning Saß erzählte der Zuhörerschaft besonders kontroverse Geschichten aus seiner Laufbahn als Psychopathologe, wo er zum Beispiel die schwierige Situation des in Deutschland bekannt gewordenen „Autobahn-Schützen“ durchleuchtete und diese mit der Tat sowie der Einschränkung des Beschuldigten verband. Insgesamt half Saß dabei, sich in die Psyche einer Person hineinzufühlen, die wegen der misslichen Umstände, die sie umgeben, in ihrer Willensfreiheit eingeschränkt ist.
Der bekannte Hirnforscher Gerhard Roth ließ einen in die Welt der Hirnkrankheiten eintauchen und listete Dinge auf, die bei Verbrechen im Gehirn als Symptome oder Ursachen gewertet werden können. So stellte er die Reaktionen impulsiv-reaktiver Gewalttäter denen von Psychopathen gegenüber und stützte sich dabei auf empirisch festgestellte Erkenntnisse der Hirnforschung. Es stellte sich heraus, dass der Unterschied zwischen Menschen wie einem gewöhnlichen U-Bahn-Schläger und einem Menschen wie Hitler tatsächlich schon im pränatalen Stadium und der frühen Kindheit entsteht und sozusagen auf epigenetischer Basis determinierend wirkt. Roth beendete seinen Vortrag mit den schönen abschließenden Worten: „Wir sollten uns nicht fragen, wer schuld ist, sondern wie den einzelnen Menschen, ob vermeintlicher Täter oder vermeintliches Opfer, geholfen werden kann.“
Zum Schluss wurde noch das Thema für das Philosophicum 2015, nämlich „Der Mensch und seine Perfektion“ vorgestellt. Dem finalen Vortrag folgte ein Vorarlberg-Brunch, welcher mir noch einmal erlaubte, zwischen unterschiedlichsten Vorarlberger Spezialitäten der Völlerei zu frönen, bevor es an die Heimreise ging. Beinahe hätte ich bei der Zugfahrt nach Hause keinen Sitzplatz bekommen, doch ein junger Bursche erweichte sich schließlich auf meine Bitte hin, seine kleine Tasche von ihrem eigenen Sitzplatz zu entfernen und mir dadurch ebenjenen bereitstellen zu können.
Wer tatsächlich bis hierher gelesen hat, dem möchte ich sagen, dass das Philosophicum eine sehr bereichernde Erfahrung war, jedoch nicht mit jenem Hochgefühl mithalten konnte, das ich bei der österreichischen bzw. der internationalen Philosophie-Olympiade verspürte.
Ich möchte mich bei der „Presse“ bedanken, die mir dieses Stipendium offeriert und mir dadurch eine Menge an Kosten erspart hat. Von ganzem Herzen danke ich noch einmal dem Team der Philolympics, denn ohne eure wunderbare Veranstaltung hätten einige der schönsten Kapitel meines bisherigen Lebens nicht geschrieben werden können. Dabei hatte alles so klein angefangen - mit einem kleinen Essay, den ich an zwei Nachmittagen in den Weihnachtsferien an meinem Schreibtisch in unserem steirischen Ferienhaus geschrieben habe.
Lieber Leser, ich wünsche dir alles Gute für die Zukunft! Meine Koffer sind gepackt, und in etwa zehn Stunden sitze ich schon in der Heerestruppenschule und beginne mit einem neuen Lebensabschnitt. Glücklicherweise habe ich mich in Lech mit philosophischer Literatur eingedeckt, die mich in dieser Zeit begleiten wird.
Lukas Tarra
Wien, am 5. Oktober 2014