Hinweise zum Essayschreiben
Eine Einführung von Gerd Gerhardt (Münster), Mitglied des internationalen IPO-Komitees.
Was ist ein Essay?
Man kann zwei Typen von Essays unterscheiden:
- den klar argumentierenden (eher bei F. Bacon, Descartes, Locke, Leibniz) und
- den literarischen (eher bei Montaigne, Pascal, Voltaire, Nietzsche, Adorno, Bloch).
Beide Typen des Essays sind bewährte Formen des Philosophierens und sollten auch im Philosophieunterricht geübt werden.
Die Ausführungen des Schüler-Dudens Literatur (Bibliograph. Institut, Mannheim 1980, S. 137) gelten eher für den zweiten Typ:
Der (oder das) Essay unterscheidet sich von anderen literarischen Zweckformen wie Bericht, Traktat "durch die betonte Subjektivität der Auffassung und v. a. durch die lockere Art der Behandlung des Themas, für die eine assoziative, oft sprunghafte Gedankenführung, variationsartiges Umkreisen des Gegenstandes, Durchspielen von Denkmöglichkeiten, oft paradoxe und provokative Aussagen grundlegend sind. In seiner Abkehr von einer streng wissenschaftlich-objektiven Darstellung zählt der Essay zu den offenen, unabgeschlossenen Ausdrucksformen der Wahrheitssuche, in denen es nicht auf konkrete Ergebnisse, sondern v.a. auf Denkanstöße für den Leser ankommt."
Auf der 1. Philosophischen Winterakademie in Münster wurde unter den anwesenden Lehrkräften für das Fach Philosophie Einigkeit darüber erzielt, dass der Landeswettbewerb Philosophischer Essay sich auf den ersten Essay-Typ beschränken soll.
Denn es ist nahezu unmöglich, Essays miteinander zu vergleichen und in eine Rangfolge einzuordnen, wenn sie nicht demselben Typ angehören.
Jay F. Rosenberg (Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger. Vittorio Klostermann. Frankfurt a. M. 1986) stellt den ersten Typ, den klar argumentierenden Essay vor:
"Im wesentlichen ist er die begründete Verteidigung einer These. Im Essay muß es einen oder mehrere Punkte geben, die zu beweisen sind, und es sollten Überlegungen vorgebracht werden, die sie stützen – und zwar so, daß auch erkennbar ist, daß die Überlegungen sie stützen." (Rosenberg, S. 81)
Der argumentierende Essay verlangt
- Beschränkung auf themenrelevante Ausführungen
- Verständlichkeit und Sachlichkeit der Darstellung (Lehrplan - NRW! - Philosophie, S. 36)
- Klarheit und Genauigkeit im Ausdruck,
- geordnete Entwicklung der Gedanken sowie
- logische Schärfe und Konsistenz. (Rosenberg, 81)
"Enthusiasmus kann Verständlichkeit nicht ersetzen".
"Vor allem sollten Sie schwerfällige ‚akademische’ Ausdrucksweisen vermeiden. Die Philosophie hat einen schlechten Ruf in dieser Hinsicht. Es ist weit verbreitet, Philosophie für eine ‚tiefsinnige’ Sache zu halten. Tief mag sie ja sein, doch sollte die tiefe Klarheit eines Hochgebirgssees ihr Vorbild sein, und nicht die tiefe Undurchdringlichkeit eines trüben Sumpfes."
(Rosenberg, 82)
Der Aufbau eines argumentierenden Essays
Es gibt keinerlei Vorgaben darüber, wie ein Essay aufgebaut werden sollte. Manche gehen induktiv vor, andere deduktiv, wieder andere entwickeln ihre Gedanken lieber dialektisch. Auch eine dialogische Form ist denkbar, wenn der Dialog argumentierend gestaltet ist. Manchem mögen die Vorschläge von Jay F. Rosenberg hilfreich sein. (Sie sind keinesfalls verbindlich.)
Rosenberg unterscheidet drei Arten von Essays:
- Die kritische Prüfung einer Ansicht
- (präzise, unvoreingenommene) Darstellung der Ansicht (These und die sie stützenden Argumente)
- Kritik der Ansicht
- Der urteilende oder richtende Essay (Ziel: Entscheidung in einem philosophischen Streit) (Rosenberg, 135)
- Formulierung des Problems (günstig: Frage formulieren – zwei Antworten)
- Darstellung der Position A
- Bewertung der Position A
- Darstellung der Position B
- Bewertung der Position B
- Entscheidung
- Der problemlösende Essay (Rosenberg, 139)
- Formulierung und Analyse des Problems
- Entwicklung von Kriterien für eine adäquate Lösung
- Entfaltung der Lösung
- Prüfung, inwieweit die Lösung adäquat ist.
- (Antworten auf erwartbare Kritik)
Wie kann man den Denk- und Schreibprozess anregen und erleichtern?
Lesen Sie die Textvorlage mehrmals genau. Sie können Ideen dazu in einer mind-map sammeln. Gibt es zentrale Begriffe, die zu klären sich lohnt? Auf welche Frage antwortet der Text? Oder wie ist das Problem zu formulieren, auf das er reagiert? Welche These wollen Sie in Ihrem Essay vertreten?
Sie können das Thema präzisieren oder einengen; aber sagen Sie das in Ihrer Einleitung. Überlegen Sie, ob derselbe Text verschiedene Lesarten erlaubt. Im Zweifelsfall klärt man diese und wendet sich der stärksten Lesart zu. Grundsätzlich gilt: Jede Position sollte man so stark machen, wie es geht. Andernfalls kämpft man leicht gegen zu schwache oder selbst erdachte Gegner. Überlegen Sie Pro- und Contra-Argumente zur Textvorlage und zu Ihren eigenen Thesen.
Welche Kenntnisse aus der Philosophiegeschichte können Sie in Ihre Argumentation einbauen? Beachten Sie dabei, dass Sie diese Kenntnisse für die Argumentation fruchtbar verwenden können und nicht nur Ihre Belesenheit zur Schau stellen. Wenn Sie das Zitat, zu dem Sie schreiben, nicht philosophiegeschichtlich einordnen können, muss das kein Nachteil sein.
Können Sie die Textvorlage oder Ihre Thesen veranschaulichen durch Beispiele? (Denken Sie an literarische, biblische Geschichten, Bilder und vor allem an eigene Alltagserfahrungen.) Neben den Beispielen sollten Sie auch abstrahierende Sätze wagen (Prinzipien, Regeln formulieren oder zitieren).
Überlegen Sie den Aufbau Ihres Essays. In der Einleitung sollte das Interesse des Lesers geweckt werden. (Was will ich überhaupt beim Leser erreichen?) Am Ende ist oft eine Zusammenfassung hilfreich. Meist ist es für den Leser hilfreich, wenn Sie Ihr methodisches Vorgehen explizit angeben. Gliedern Sie Ihren Essay bei gedanklichen Einschnitten durch Absätze. (Machen Sie nicht nach jedem Gedanken einen Absatz.) Sie können Ihrem Essay auch eine eigene Überschrift geben. (Es ist ratsam, die Überschrift erst nach Beendigung der Niederschrift zu formulieren.) Unterscheiden Sie Wissen und Meinung („anscheinend“ und „scheinbar“). Unterscheiden Sie empirisch zu lösende Fragen von Fragen der philosophischen Reflexion.
Im übrigen – Sie dürfen Fehler machen. Schreiben Sie möglichst häufig und ohne Perfektionsdruck, weil „[...] es letztlich keinen Ersatz für Übung gibt, wenn man die Kunst beherrschen will, ein Stück Philosophie zu kritisieren [...].“ (Rosenberg, S. 233)
Beispiel-Themen
Themen beim deutschen Landeswettbewerb Philosophischer Essay im Herbst 2000
"Im Namen der Toleranz sollten wir daher das Recht beanspruchen, die Intoleranz nicht zu tolerieren"
Karl R. Popper, aus: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde, Band I, Bern 1957, S. 268
"Es ist eine Torheit, nach unserem Erkenntnisvermögen über Wahrheit oder Unwahrheit zu bestimmen."
Michel de Montaigne, Essais, Übersetzung 1998.
"Verlange nicht, dass die Dinge gehen, wie du es wünschest, sondern wünsche sie so, wie sie gehen, und dein Leben wird ruhig dahin fließen."
Epiktet, Enchairidion, Handbüchlein der stoischen Moral, VIII. (um 100 n. Chr)
Themen beim deutschen Landeswettbewerb Philosophischer Essay im Herbst 2004
"Der Mensch ist die Krone der Schöpfung. Nur schade, dass es eine Dornenkrone ist."
(Stanislaw J. Lec)
"[...] erstens: es gibt nichts; zweitens: wenn es auch etwas gäbe, wäre es doch für den Menschen unerkennbar; drittens: wenn es auch erkennbar wäre, wäre es doch unserem Mitmenschen nicht mitteilbar und nicht verständlich zu machen."
(Grundthesen des Gorgias von Leontinoi in seiner verlorenen Schrift "Vom Nichtseienden" - so referiert von Sextus Empiricus, zit. in : Die Vorsokratiker, hrsg. v. Wilhelm Capelle. Kröner Verlag, Stuttgart 1968, S. 345)
"Die Kunst macht den Anblick des Lebens erträglich, dadurch dass sie den Flor des unreinen Denkens darüber legt."
(Friedrich Nietzsche: Menschliches, Allzumenschliches. Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Karl Schlechta, Carl Hanser Verlag München-Wien. Band II, Seite 548. Erstausgabe 1878)
Ist es moralisch zu rechtfertigen, dass man ein von Terroristen entführtes Flugzeug abschießt, "wenn nach den Umständen davon auszugehen ist, dass das Luftfahrzeug gegen das Leben von Menschen eingesetzt werden soll"?
(§ 14 Luftsicherheitsgesetz)